Einheit mit Dissonanzen: Der Weckruf aus der Paulskirche

Während auf dem Römerberg Jazz zum 35. Jahrestag der Wiedervereinigung erklingt, herrscht nur wenige Meter entfernt, in der Paulskirche, eine andere Tonart. Statt reiner Festtagsrhetorik prägt eine kritische Bestandsaufnahme die zentrale Feier der Stadt. Die Botschaft aus der Wiege der deutschen Demokratie: Die Einheit ist kein abgeschlossenes Museumsstück, sondern eine andauernde, unbequeme Aufgabe.
Frankfurt hat den Tag der Deutschen Einheit mit einer nachdenklichen und selbstkritischen Note begangen. Oberbürgermeister Mike Josef erinnerte an die große Solidarität, mit der die Stadt 1990 die Gäste aus dem Osten empfing – ein Engagement, das bereits am 3. Oktober 1990 in der Städtepartnerschaft mit Leipzig mündete. Doch er warnte vor Bequemlichkeit. Das Zusammenwachsen sei kein Selbstläufer. „Die richtige Einheit in den Herzen und Köpfen ist harte Arbeit, denn oft müssen wir Ressentiments und Vorbehalte überwinden“, so Josef.

Für den eigentlichen Weckruf sorgte Festredner Christian Wolff, langjähriger Pfarrer an der Leipziger Thomaskirche. Der Theologe, der sich selbst als „lupenreinen Wessi“ bezeichnet und Anfang der 90er-Jahre nach Leipzig ging, rechnete mit den Illusionen der Nachwendezeit ab. Zwar sei die Einheit „das Beste gewesen, was beiden Teilen Deutschlands und Europa passieren konnte“, so Wolff, doch er benannte unmissverständlich die Folgen des schnellen Vollzugs.
„Mit der Deutschen Einheit im Oktober 1990 hatten sich alle Reformgedanken und Erneuerungsnotwendigkeiten erst einmal erledigt“, konstatierte Wolff. „Das fällt uns 35 Jahre später in allen gesellschaftlichen Bereichen schwer auf die Füße.“ Er kritisierte das Versäumnis der Politik, die tiefgreifenden Verlusterfahrungen vieler Ostdeutscher – den Verlust von Arbeit, Heimat und sozialen Bindungen – ernst zu nehmen.
Auftrag für die ZukunftWolffs Rede mündete in einem Appell. Anstelle einer neuen Mauer sehe er heute gemeinsame Probleme, die rechte Bewegungen nicht lösen könnten. Nötig sei vielmehr eine dem Menschen zugewandte, „lösungsorientierte Bildungs-, Sozial- und Integrationspolitik“. So wurde der Festakt in der Paulskirche zu einem Aufruf, die Deutsche Einheit nicht nur zu feiern, sondern sie als permanenten Auftrag zu verstehen – eine Botschaft, die gerade in Frankfurt auf besonderen Resonanzboden trifft.
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