Gewalt hinter verschlossenen Türen: Wenn Opfer nicht gehört werden

Narzissmus-Expertin Chris Oeuvray begleitet seit Jahren Betroffene häuslicher Gewalt, kennt narzisstische Dynamiken und plädiert für mehr gesellschaftliche Verantwortung.
Ich erinnere mich an den Moment, als ich eine Frau nach einer Vergewaltigung zur Polizei begleitete. Wir saßen stundenlang bei der Untersuchung, verletzt wie sie war, während immer wieder andere Notfälle hereinkamen – als ob ihr Fall kein Notfall gewesen wäre.
Ich denke an die minderjährigen Kinder, die ich begleite, die beim getrennt lebenden Vater Gewalt erleben, diese Gewalt mehrfach anzeigen, und trotzdem gezwungen werden, ihn zu besuchen – weil die Verfahren hängig sind, und der Mutter gedroht wird, dass die Kinder fremdplatziert werden, wenn sie es nicht schafft, sie zum Vater zu bringen.
Ich erinnere mich an meine Kindheit, als ich bei einem Kinderwettbewerb sah, wie der Organisator seiner eigenen Tochter einen Preis zuschanzte, und sie sich nicht darüber freute. Erst Jahre später erfuhr ich, dass dieser Vater pädophil war und seine Kinder mehrfach missbraucht hatte, während die Mutter, eine RELIGIONSLEHRERIN, wegschaute und alles abstritt.
Häusliche Gewalt ist kein Randthema. Sie betrifft Millionen Menschen – überwiegend Frauen – die Tag für Tag, Nacht für Nacht in Angst leben. Hinter den verschlossenen Türen ihrer eigenen vier Wände erfahren sie Demütigungen, Erniedrigungen, psychische Zerstörung und körperliche Übergriffe. Oft steckt hinter diesen Mustern eine narzisstische Dynamik: Täter, die kontrollieren, manipulieren und ihre Opfer in ein Netz aus Schuld, Scham und Abhängigkeit verstricken.
Das größte Problem? Wenn Opfer Hilfe suchen, stoßen sie viel zu oft auf taube Ohren. Gerade der Schritt, Gewalt anzuzeigen, ist für Betroffene unglaublich schwer. Nicht nur, weil sie sich emotional von ihrem Peiniger lösen müssen, sondern weil sie häufig auf ein System treffen, das sie nicht schützt, sondern zusätzlich beschämt.
Rund 80 % der Polizeibeamten sind männlich. Viele von ihnen sind zweifellos engagiert und professionell – doch immer wieder berichten Betroffene, dass sie nicht ernst genommen, abgewiegelt oder sogar für mitschuldig erklärt werden. Aussagen wie: „Warum haben Sie ihn denn nicht früher verlassen?“ oder „Das klären Sie besser privat“ sind leider keine Einzelfälle. Häusliche Gewalt wird häufig verharmlost, als Beziehungskonflikt abgestempelt oder schlichtweg ignoriert.
Chris Oeuvray hat als langjährige psychologische Beraterin tiefen Einblick und umfangreiche Fachkenntnis zu Herausforderungen und Konflikten. Ihre Schwerpunkte sind Narzissmus und Mobbing. Ihr Ratgeber "Narzissmus – ohne mich" hilft Betroffenen von narzisstischem Missbrauch mit einem 28-Tage-Plan. In ihrem Thriller "Tödlich verliebt" und dem Roman "Teufelsweib" verbindet sie Literatur mit Lebenshilfe. Sie ist 1967 geboren und lebt mit Partner und Sohn in Zug (Schweiz).
Gerade bei narzisstischem Missbrauch, der oft unsichtbar ist und sich vor allem auf emotionaler Ebene abspielt, fehlen bei Polizei und Justiz vielfach das Bewusstsein und die nötige Sensibilität. Opfer, die sich endlich überwinden, Anzeige zu erstatten, erleben retraumatisierende Situationen: Sie müssen Details wieder und wieder schildern, werden infrage gestellt oder erleben, wie der Täter ungeschoren davonkommt.
Was braucht es also? Es braucht einen gesellschaftlichen Wandel – und einen politischen Willen. Wir müssen anerkennen, dass häusliche Gewalt kein privates Problem ist, sondern ein massives gesellschaftliches Versagen. Wir brauchen klare gesetzliche Rahmenbedingungen, die den Schutz der Opfer in den Mittelpunkt stellen, und eine Justiz, die nicht jahrelang auf Verfahren wartet, während Kinder und Frauen – und auch betroffene Männer - weiter leiden. Wir müssen Polizistinnen und Polizisten gezielt schulen, damit sie narzisstische Gewaltmuster erkennen und Betroffene ernst nehmen. Wir brauchen mehr weibliche Ansprechpartnerinnen bei der Polizei und in den Beratungsstellen. Wir brauchen mehr finanzielle Mittel für Schutzhäuser, psychologische Hilfe und Präventionsprogramme.
Und wir brauchen eine klare Botschaft: Wer Gewalt erfährt, hat das Recht auf Schutz – ohne Wenn und Aber. Die Gesellschaft, die Politik und jede Institution müssen den Mut aufbringen, nicht länger wegzusehen.
Jede Anzeige zählt. Jeder Schritt aus der Unsichtbarkeit ist ein Akt des Mutes. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Mut nicht länger ins Leere läuft. Denn eines ist sicher: Sie sind nicht allein. Sie dürfen Unterstützung annehmen. Die Scham gehört nicht den Opfern – sie gehört den Tätern. Sie haben das Recht, sich Hilfe zu holen. Sie haben das Recht, wieder in Sicherheit zu leben. Und wir als Gesellschaft haben die Verantwortung, Sie dabei nicht im Stich zu lassen.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.
FOCUS